Julius von Jan

 

Meine Erlebnisse in der Zeit des Kampfes gegen den Antisemitismus im Dritten Reich

 

von Pfarrer Julius v. Jan, Stuttgart-Zuffenhausen,

geschrieben für das Stuttgarter Evangelische Sonntagsblatt, 25.08. und 01.09.1957.

 

Schon vor Jahren bin ich gebeten worden, etwas hierüber in einem kirchlichen Blatt zu veröffentlichen. Damals hatte ich nicht die Freiheit dazu. Nun wurde ich neuerdings vom Schriftleiter des evangelischen Sonntagsblatts aufgefordert, zum Gedenktag Israels den Bericht zu schreiben. Diesmal tue ich's, weil ich immer wieder mit Erstaunen erfahre, wie wenig die heutige junge Generation weiß, was die Juden in Deutschland im Dritten Reich auszustehen hatten, und welch ein Wagnis es war, sich für ein gerechtes Verhalten gegen die Juden einzusetzen.

Der nationalsozialistische Antisemitismus wirkte sich ja von 1933 an in immer schärferen Gesetzen und Handlungen aus, die den Juden das Leben in Deutschland unmöglich machen sollten. Ab und zu hörte ich schon 1934 von kleinen Demonstrationen in Städten, wobei Juden auf dem Marktplatz an den Pranger gestellt, verhöhnt und auch geschlagen wurden. Aber man ging zunächst vorsichtig ans Werk, um nicht allzu großes Aufsehen im Ausland zu erregen. Je stärker sich die Partei fühlte, umso härter wagte sie zuzugreifen, umso öfter wurden Juden verhaftet und verschwanden in Konzentrationslagern. Wir Pfarrer der bekennenden Kirche hatten uns immer ernster mit der Frage zu beschäftigen, ob die Kirche noch schweigen dürfe, zu gewissen Vorgängen, die weithin als große Ungerechtigkeiten ä empfunden wurden. Wir hatten alle Angst davor, diese empfindlichste Stelle des damaligen Regimes zu berühren. Da geschah Anfang November 1938 der Mord am Deutschen Gesandtschaftsrat in Paris durch einen Juden. Damit schien der Nationalsozialismus ein moralisches Recht zu haben, sich zu rächen. Und die Rache am 9. November 1938 war furchtbar. In allen größeren Städten kam es zu den so genannten spontanen Demonstrationen, bei denen von ungezügelten Menschenhaufen die Synagogen niedergebrannt, die Geschäfte und Privatwohnungen der Juden geplündert und beraubt und die Juden in Massen verhaftet und misshandelt wurden. Ich war damals als Pfarrer in Oberlenningen bei Kirchheim u/Teck. Dort gab es keine Juden, aber bald hörte man, dass z. B. in Ulm einem Rabbiner sämtliche Barthaare einzeln ausgerissen wurden, so dass er nach 3 Tagen unter großen Schmerzen starb: dass in Esslingen im jüdischen Waisenhaus den Kindern, die gerade beim Essen waren, die Schüsseln mit den Speisen an die Wand geworfen wurden; dass auch ganz in unserer Nähe auf der Alb ein tüchtiger nichtarischer Arzt, der bei den Bauern sehr geschätzt war und sich im ersten Weltkrieg im deutschen Heer ausgezeichnet hatte, ins Konzentrationslager abgeführt worden sei; und dergleichen. Welchen Christenmenschen hätten solche Schandtaten nicht erschüttern müssen! In diesen Tagen wurde es mir innerlich klar, dass längeres Schweigen Sünde wäre. Und nun kam am 16. November 1938 der Bußtag der evangelischen Kirche, zu dem uns von der Landeskirche als Text das Wort aus Jeremia 22, Vers 29 gegeben war: o Land, Länd, Land höre des Herrn Wort! Nur dieses eine Sätzlein. Aber wie könnte man über dieses Sätzlein predigen, ohne das ganze Kapitel zu lesen? Sonst weiß man ja gar nicht, um was für ein Wort des Herrn es da geht. So hielt ich denn nach schwerem inneren Kampf folgende (hier abgekürzte) Bußtagspredigt:

Siehe Predigt, die extra aufgeführt ist!

 

 

Die Reaktion der Nationalsozialistischen Partei auf diese Bußtagspredigt:

 

Neun Tage nach dieser Bußtagspredigt, am Freitag, 25. November 1938, entdeckte ich morgens, dass rings um Pfarrhaus und Kirche rote Plakate angeschlagen waren mit dem Aufdruck: "Judenknecht". Ich riss die Plakate ab und teilte den Vorgang dem örtlichen Gendarmeriebeamten telefonisch mit. Dann bereitete ich mich für meinen Bibelabend vor, den ich in Schopfloch über 1. Petrus 4 zu halten hatte. Dieses Kapitel rüstete mich auch ganz persönlich zum Aushalten der "Hitze", durch die es nun gehen sollte. Ebenso stärkte mich das letzte Gebet mit einem Bruder aus meinem Männerkreis, der in Vorahnung des kommenden Leidens mit mir noch am Nachmittag dieses 25. November die Knie beugte. Um 8 Uhr hielt ich, von meiner Frau nach Schopfloch begleitet, dort den Bibelabend. Gleichzeitig trafen, ohne dass ich es wusste, in Oberlenningen 5 Lastautos aus Nürtingen und Kirchheim ein, beladen mit 200 SA-Leuten in Zivil. Sie stiegen an der Turnhalle aus und marschierten johlend vor das Pfarrhaus, um den Judenknecht und Volksverräter herauszuholen. Während der örtliche Gendarmeriebeamte den gewöhnlichen Zugang zum Pfarrhaus, die Südtüre, mutig bewachte, und keine Demonstranten hineinließ, schlugen diese die Nordtüre und einige Fenster ein, drangen gewaltsam in das Pfarrhaus ein, durchsuchten es von unten bis oben nach mir, fanden aber nur meinen schlafenden vierjährigen Sohn in seinem Bettchen im Schlafzimmer und den evangelischen Mädchenkreis im Jugendzimmer beim Adventskranzwinden. Sie ärgerten sich, dass sie mich nicht fanden, warfen einige Stinkbomben ins Haus und verließen es wieder, um vor dem Haus weiter zu toben. Als bekannt wurde, dass ich in Schopfloch Gottesdienst halte, fuhr ein Auto mit 3 Demonstranten dorthin. Ich war soeben aus der Kirche gekommen, es läutete am Schopflocher Pfarrhaus, ich sollte im Gasthaus ans Telefon kommen; als ich vors Haus trat, wurde ich gepackt von 3 Männern und gewaltsam ins Auto geschoben mit der Bemerkung, nun könne ich Buße tun. Sie fuhren mit mir nach Oberlenningen vors Pfarrhaus, wo die von auswärts gekommenen Demonstranten warteten und sich tobend und lästernd auf mich stürzten, als ich ausgestiegen war. Sie schlugen von allen Seiten auf mich ein mit Fäusten, Riemen und Stahlruten, vor allem ins Gesicht, so dass ich nach wenigen Augenblicken in einer gewissen Betäubung zu Boden sank. Ich spürte dann wieder, wie sie mich mit den Füßen stießen, anspieen, mir den Hals und die Krawatte zuschnürten, mich hochhoben, wieder mit Stahlruten übers Gesicht schlugen, bis eine Stimme befahl: "Werft ihn auf das Dach des Geräteschuppens." Als ich dort lag und die Menge lästern und toben hörte, erfüllte mich trotz aller körperlichen Mattigkeit ein tiefer Friede und ein großes Mitleid mit den von Dämonen gehetzten Menschen, für die ich von Herzen beten konnte. Ich erfuhr es am eigenen Leibe, dass man wirklich fröhlich sein kann, wenn man gewürdigt wird, um Jesu willen Streiche zu leiden. Ich schlug die Augen auf und sah meine Kirche, in der ich Gottes Wort verkündigt hatte, und dankte Gott, dass ich sein Wort im Leiden vor meiner Gemeinde bestätigen durfte.

Nach einiger Zeit wurde ich auf Befehl des Gendarmeriebeamten ins Rathaus getragen. Ein auswärtiger Arzt, der die Demonstranten befehlsgemäß begleitet hatte, untersuchte mich flüchtig und kommandierte: "Aufstehen" .Und ich konnte wirklich aufstehen; kein Bein war mir zerbrochen worden. Der Gendarmeriebeamte schützte mich vor weiteren Misshandlungen, die Fremden brüllten draußen weiter, ihre Anführer pöbelten mich drinnen an und richteten zum Teil sinnlose Fragen an mich, bei denen ich dankbar war, dass das Beispiel Jesu im Gerichtssaal auch mir das Recht gab zu schweigen. Nach etwa einer weiteren Stunde erschienen 2 Gendarmen aus Kirchheim mit dem Auftrag, mich im Auto ins Kirchheimer Amtsgerichtsgefängnis einzuliefern. Der Anführer der Demonstranten forderte jedoch, dass ich vor meinem Abtransport noch durch das Spalier der Fremden geführt werde. Etwa 100 Meter weit standen rechts und links die fremden SA-Leute, schrieen wie zuvor und spieen mich an, ohne zu verstehen, wie froh mich die Nähe des Herrn gerade auf diesem Weg der Schmach und Nachfolge machte. Dann ging’s ins Gendarmerieauto, und etwa 11 Uhr nachts an diesem Freitag, dem Leidenstag Christi, wurde ich im Amtsgerichtsgefängnis Kirchheim eingeliefert, wo ich im Augenblick die Schutzhaft wirklich dankbar als einen Schutz empfand. Vielleicht wundert sich mancher Leser, dass die Oberlenninger Gemeinde diese Demonstration nicht zu verhindern suchte. Aber fürs erste waren die Männer der Gemeinde zur Luftschutzversammlung in die Turnhalle einberufen. Ferner war den Nachbarn des Pfarrhauses streng verboten, sich an den Fenstern sehen zu lassen. Als später einzelne Männer sich für mich einsetzten, wurde der eine geschlagen, der andere konnte sich durch die Flucht seinen Verfolgern entziehen. Die Proteste anderer wurden nicht beachtet.

Mein Verhör durch die Gestapo fand dann in der zweiten Nacht von 2 -4 Uhr statt, blieb aber sachlich. Am Tag darauf wurde vom Amtsgericht Kirchheim der Haftbefehl gegen mich verfügt; obwohl die dortigen Richter innerlich auf meiner Seite standen, taten sie dies, um meine Verhaftung durch die Gestapo zu verhindern.

 

 

In Gefängnissen und Verfolgungen

 

Gegen meinen Haftbefehl legte ich beim Sondergericht Stuttgart Beschwerde ein; sie wurde jedoch als unbegründet verworfen. Gesundheitlich ging es mir zunächst nicht gut, weil mein verbeulter Kopf mir viel Schmerzen machte. Aber nach 8 Tagen ließ das Kopfweh nach, und ich fühlte mich wieder gesund. Meine Haft in Kirchheim dauerte vom 25. November 1938 bis 23. Februar 1939. Sie war mir durch die Freundlichkeit der Richter und Gendarmen, durch die häufige Besuchserlaubnis für Frau und Kind, für Amtsbrüder, Verwandte, Freunde und Bekannte, durch die Geschenke, die Oberlenninger Gemeindeglieder ins Gefängnis brachten, durch die Glaubenslieder, die mir die Jugend im benachbarten evangelischen Gemeindehaus zum Trost sang, durch das Einstehen der Kirchenleitung für mich und durch viele Briefe und treue Fürbitte der ganzen bekennenden Kirche in Deutschland sehr erträglich gemacht. Ich durfte 3 Tage in der Woche in meiner Zelle studieren; an den übrigen Tagen arbeitete ich im Gemeinschaftsraum mit den anderen Gefangenen, hielt diesen sonntags immer eine Andacht und lernte viele Gesangbuchlieder auswendig. Von Oberlenningen kamen einmal abends einige Männer und etwa 50 Frauen, um mir im Gefängnishof zu singen. Sie bekamen allerdings nicht die Erlaubnis dazu; doch sah ich sie durchs Gitterfenster und freute mich über dieses Zeichen der Glaubensverbundenheit.

Offenbar gefiel es der Gestapo nicht, dass ich so nahe bei meiner Gemeinde in Haft saß. Am 23. Februar 1939 wurde ich durch 2 Gestapobeamte aus Stuttgart plötzlich abgeholt und ins Amtsgerichtsgefängnis Stuttgart (Urbanstraße) überführt. Dort hatte ich eine bessere Zelle, war immer allein, durfte nur wenig Besuch empfangen durch meine nächsten Angehörigen und hatte stumpfsinnige Arbeit in der Zelle zu tun. Der Gefängnisgeistliche Daniel Schubert besuchte mich treu und brachte mir auch ein griechisches Neues Testament in die Zelle, wofür ich besonders dankbar war.

Am 27. März 1939 (nach viermonatiger Haft) wurde mir mitgeteilt: der Haftbefehl für mich sei aufgehoben durch Beschluss des Sondergerichts Stuttgart. Aber ich wurde nicht frei. Im Gefängnishof stand das Gefangenenauto der Gestapo und brachte mich in das Polizeigefängnis Stuttgart (Büchsenstraße) neben der Hospitalkirche, wo ich direkt der Gestapo unterstellt war, Fingerabdrücke von mir gemacht wurden, usw. Das Aufsichtspersonal dort war sehr streng, tastete mich aber nicht an. Eine Plage waren die Wanzen. Und das Schlimmste war für mich die Nachricht, dass meine Frau nach meiner Überführung in das Polizeigefängnis einen Nervenzusammenbruch erlitt und ins Tropengenesungsheim nach Tübingen gebracht werden musste. Dazu kam, dass mein Zellenkamerad, ein vornehmer Engländer, täglich furchtbare Verhöre vor der Gestapo durchmachen musste und jedes Mal so verstört und verzweifelt in die Zelle zurückkam, dass ich Mühe hatte, ihn an der Ausführung seiner Selbstmordabsichten zu hindern. Man legte ihn nach einigen Tagen in eine Einzelzelle, wo er sich prompt das Leben nahm. Meine Hoffnung auf Freiheit war sehr klein geworden, aber es wurde viel für uns gebetet. Da verfügte zu meiner großen Überraschung die Gestapo Stuttgart am 13. April 1939 meine Entlassung und auf 15. April 1939 meine Ausweisung aus Württemberg- Hohenzollern mit der Auflage, dass ich mich am neuen Niederlassungs- Ort unter Vorlegung dieser Verfügung polizeilich zu melden und diesen Niederlassungs- Ort der Gestapoleitstelle Stuttgart unverzüglich anzuzeigen habe.

So war ich plötzlich frei, durfte noch 2 Tage in Württemberg sein, aber Oberlenningen nicht betreten. Sollte ich diesem Befehl gehorchen oder dennoch in meine Pfarrei zurückkehren, wie z. B. Amtsbruder Paul Schneider 1937 trotz Ausweisung nach Dickenschied zurückgekehrt war, um dort alsbald wieder verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht zu werden? Meine Lage war anders als die von Paul Schneider. Er wurde von seinem Kirchengemeinderat wieder angefordert. Mein Kirchengemeinderat in Oberlenningen war so gespalten, dass er keinen Beschluss über meine Rückkehr fassen konnte. Überdies hatte der evangelische Oberkirchenrat dafür gesorgt, dass Oberlenningen seinen Pfarrverweser hatte. Auch hatte mich das Studium der Schrift (Matthäus 10, 23) und der Geschichte der Baltischen Kirche überzeugt, dass ich unter den gegebenen Verhältnissen nicht an meine Oberlenninger Gemeinde gebunden sei und meinem Herrn auch an anderer Stelle dienen dürfe. Auch die vorläufige Leitung der Bekennenden Kirche in Deutschland hatte die Annahme oder Ablehnung eines Ausweisungsbefehls der gewissensmäßigen Entscheidung jedes Einzelnen überlassen.

So fuhr ich nach Tübingen zu meiner kranken Frau, um zu beraten, wohin wir gehen. Der evangelische Oberkirchenrat in Stuttgart riet uns, in Bayern Zuflucht zu suchen, und der Chefarzt des Tropengenesungsheims sorgte nun dafür, dass wir am 15. April 1939 in Engeltal bei Hersbruck im Neuendettelsauer Heim samt unserem Kind liebevollste Aufnahme fanden. Dort durfte meine Frau genesen. Ich besuchte Herrn Landesbischof Meiser in München, der mir freundlich entgegenkam und mich im Juni 1939 als Pfarrverweser in einer Gemeinde bei Nördlingen anstellen wollte. Als ich mich dort dem Kirchengemeinderat vorstellte, meldete der Bürgermeister des Orts sofort an die Gestapo Augsburg, was für ein gefährlicher Pfarrverweser bei ihnen aufziehen wolle, und diese wies die Partei und das Landratsamt Nördlingen alsbald an, meinen Aufzug mit Gewalt zu verhindern. Hierauf folgte ich dem Rat von Landesbischof Dr. Meiser und zog Ende Juli 1939 in die bayrische Diaspora nach Ortenburg bei Passau, wo sich eine evangelische Konfirmandenanstalt und ein evangelisches Freizeitenheim, verbunden mit evangelischer Haushaltungsschule befand. In diesem Heim wurden wir von den Augsburger Schwestern freundlich aufgenommen und versorgt. Im September 1939 begann ich wieder zu predigen in Passau und Ortenburg, und es schien sich mir im dortigen Diasporagebiet ein neues Wirkungsfeld zu bieten. Da bekam ich Anfang November meine Vorladung zur Hauptverhandlung vor dem Sondergericht Stuttgart auf 15. November 1939. Die Anklage lautete auf ein Vergehen gegen das Heimtückegesetz in Tateinheit mit einem Vergehen gegen den Kanzelparagraphen.

 

 

Sondergerichtsverhandlung

 

Mein Richter war Senatspräsident C., ein Feind der bekennenden Kirche. Er ärgerte sich schon beim Hereinkommen ins Verhandlungszimmer über die vielen Pfarrer, die im Zuhörerraum saßen, sagte spöttisch, diese Leute hätten offenbar alle nicht genügend Arbeit, und ließ durch den Gerichtsdiener ihre Namen aufschreiben. In der Verhandlung vertrat ich, gestärkt durch Lukas 21, 14 ff, furchtlos den Standpunkt meiner Bußtagspredigt, wegen der ich vor Gericht stand und berief mich in allem auf Gottes Wort, was den Vorsitzenden und den Staatsanwalt so wütend machte, dass letzterer für mich 2 Jahre Gefängnis beantragte. Es sei unverzeihlich, dass ich nach einem Jahr meine Schuld noch nicht einsehe. Ich hätte schon früher alle Warnungen der bestgesinnten Menschen in den Wind geschlagen. Das zeuge von einer seltenen Verbohrtheit wie bei den ernsten Bibelforschern. Mein Verteidiger, Dr. Schultze zur Wiesche von Düsseldorf dagegen erklärte: Bei meiner Bußtagspredigt handle es sich nicht um hetzerische oder gar gehässige Angriffe gegen Partei und Staat, sondern um eine Bezeugung des Wortes Gottes gegen die Sünden des Volks und des Zeitgeistes, wie es Aufgabe eines evangelischen Predigers sei. Die Ausschreitungen gegen die Juden am 9. November 1938 aber seien Vorgänge, die viele Tausende in unserem Volk beunruhigt hätten und hinter die sich auch laut Erklärung von Dr. Goebbels Staat und Partei nicht stellten. So liege bei meiner Bußtagspredigt auch kein Vergehen gegen den Kanzelparagraphen vor. Wenn durch meine Predigt vielleicht Unruhe entstanden sei, so sei es die Unruhe des Gewissens, die durch das Wort Gottes entstehen müsse. Er beantragte darum Freispruch. Nach fast 5-stündiger Verhandlung verkündigte der Vorsitzende, der die Worte des Verteidigers völlig missachtete, das Urteil, das auf 16 Monate Gefängnis lautete, abzüglich 4 Monate Untersuchungshaft, die angerechnet werden.

 

Die neue Gefängniszeit in Landsberg am Lech

 

Diese begann für mich am 4. Januar 1940 und sollte 1 Jahr dauern. Das war für die Familie erneut eine schwere Trennung, über die sich meine Frau, da ja Krieg war, vor allem mit dem Gedanken tröstete, dass ich dadurch zunächst vor dem Frontdienst draußen bewahrt wurde. Sie schrieb mir damals u. a. das Wort 1. Mose 7, 16: "Und der Herr schloss hinter ihm zu." Herr Oberkirchenrat Daumiller von München kam gleich, nachdem ich meine Haft angetreten hatte, in die Gemeinde Ortenburg, wo meine Frau lebte, und verkündigte der Gemeinde, dass ich um des Wortes Gottes willen im Gefängnis sei, und dass die Kirche in Bayern und Württemberg hinter mir stehe. Das war auch zu merken an Besuchen, die ich im Gefängnis von der bayrischen und württembergischen Kirchenleitung bekam, und vor allem an dem eifrigen Bemühen des Herrn Landesbischofs Dr. Wurm, mich freizubekommen. Letzterer hatte schon im November 1938 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart Klage gegen die Demonstranten erhoben wegen Haus- und Landfriedensbruch, ohne dass darauf überhaupt eine Antwort erfolgt wäre. Nun protestierte er bei Reichsjustizminister Dr. Gürtner in Berlin gegen Gefängnishaft in Landsberg. Dr. Gürtner versprach dem Landesbischof im Januar, im März und im April, er werde für meine sofortige Freilassung sorgen; er konnte sich aber gegen die Gestapo selbst nicht durchsetzen. So war ich eben Sträfling in Sträflingskleidung, bekam meinen Arbeitsplatz in der Kleiderkammer des Gefängnisses und wurde wie alle streng, aber nicht ungerecht behandelt. Der Gefängnispfarrer in Landsberg, Siegfried Müller, wurde mir ein lieber Freund und Übermittler von Nachrichten aus meinem Verwandten- und Bekanntenkreis und aus der Kirche. Besuche von meiner Frau durfte ich alle 6 Wochen empfangen. Meine Eltern in Blaubeuren bekamen in dieser Zeit beide bald nacheinander einen Schlaganfall, meine Frau erkrankte dann an schwerem Gallenleiden. Am 28. Mai 1940 erfolgte nun doch meine Entlassung; die restlichen 7 Monate Gefängnis wurden mir mit 3-jähriger Bewährungsfrist geschenkt, und die Bekennende Kirche verschaffte mir, meiner kranken Frau und dem 6-jährigen Buben eine vierwöchige Kur in Bad Kissingen.

 

 

Die letzten Jahre des Exils und die Heimkehr

 

Die Schikanen der Nationalsozialistischen Partei hörten damit nicht auf. Ich wurde zunächst auf 3 Jahre wehrunwürdig erklärt. Der bayrischen Landeskirche war das vielleicht nicht ganz unwillkommen. Denn nun konnte sie mich in der Diaspora um Vilshofen, Plattling, Landau an der Isar und Simbach am Inn als Stellvertreter für zwei an der Front stehende Pfarrer einsetzen. Wie nötig hätte ich dazu ein Motorrad haben sollen! Aber die Gestapo lehnte die Genehmigung meines Führerscheins ab. So musste ich meine weiten Wege größtenteils mit Fahrrad und zu Fuß machen, da nicht sehr viele Fahrmöglichkeiten mit der Eisenbahn gegeben waren. Aber Gott gab mir Kraft dazu, den Dienst mit Freuden zu tun. Er schenkte uns sogar im Januar 1943 zu unserem 9-jährigen Buben noch ein Schwesterlein. Inzwischen waren aus unserem Ortenburger Haus die Augsburger Schwestern mit der Evangelischen Haushaltungsschule ausgewiesen worden, um einem Kinderlandverschickungslager Platz zu machen. So waren wir wieder unter guter Parteiaufsicht, die mit allerlei Schikanen verbunden war.

 Am 31. Mai 1943 war meine Bewährungsfrist abgelaufen. Auf 1. Juni 1943 wurde meine Wehrunwürdigkeit aufgehoben, mit der Bestimmung, ich habe mich sofort in Augsburg in der Artilleriekaserne zu melden, sei degradiert (ich war 1917 als Vizewachtmeister in englische Kriegsgefangenschaft gekommen) und müsse alsbald an die Ostfront gesandt werden. So geschah es. Die entsprechenden verleumderischen Papiere von der Kreisleitung Nürtingen aus begleiteten mich von da an durch alle meine Truppenteile. Man hoffte offenbar, mich nach der Weise des Uria (2. Samuel 15) um die Ecke zu bringen, was meinen Angehörigen neue Sorge bereitete. Mir selbst war eine tiefe Ruhe geschenkt durch meine Geburtstagslosung aus Psalm 18 Vers 20: "Er führte mich aus ins Weite, er riss mich heraus, denn er hatte Lust zu mir." Ich kam nun in den Osten (Abschnitt Orell und nachher Kiew) erlebte wunderbare Bewahrungen, bekam im Oktober 1943 eine schlimme Gelbsucht, die mich ins Heimatlazarett brachte, war dann eine Weile Landesschütze in Bayern, ab September 1944 Infanterist in Landshut an der Isar, und erst im Februar 1945 ging’s wieder hinaus nach Ungarn. Der 8. Mai 1945, der Tag der Deutschen Kapitulation, fand mich in Bruck an der Mur in Steiermark. Es gelang mir dann, über die Alpen bis nach Pfarrkirchen in Niederbayern zu entkommen. Dort internierten mich die Amerikaner, entließen mich aber bereits am 15. Mai zu meiner Familie ins nahe Ortenburg, wo ich alle gesund antraf. Damit war die Zeit der Verfolgung nach 6 1/2 Jahren für mich beendet, und ich durfte am 25. September 1945 mit meiner Familie in der alten Gemeinde Oberlenningen wieder aufziehen und bezeugen: "Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich." Freilich wie sah es in unserem schönen Land aus! Wie viele zerstörte Städte, wie viele Flüchtlinge, wie viele Verstümmelte, wie viele traurige Menschen, die ihre Angehörigen verloren hatten, zeugten von dem Gericht, das nicht zum wenigsten die Ermordung von 5 1/2 Millionen Juden über unsere Heimat gebracht hatte. Jetzt erschraken selbst die Antisemiten darüber, wie fein die Mühlen Gottes mahlen. Heute haben’s viele von ihnen schon wieder vergessen. Darum dürfen wir nicht aufhören, zu verkündigen: "0 Land, Land, Land, höre des Herrn Wort!"

 

 

 

 

Ausführliche Predigt                 Augenzeugenbericht